Am letzten Wochenende im April hatte ich eine Zusammenkunft mit vier „Schamaninnenschwestern“ aus ganz Deutschland. Seit nun genau sieben Jahren leben und teilen wir unsere Spiritualität und Schwesternschaft, und immer mal wieder bekomme ich sichtbare und unsichtbare Geschenke von ihnen.
Passend zu Beltane möchte ich heute über ein Geschenk schreiben, das am besagten Wochenende durch meine Schwester Mel zu mir kam. Mel ist viel allein im Wald unterwegs bei sich zuhause im Taunus. Für mich ist sie eine lebendige Verkörperung des Cernunnos, des gehörnten keltischen Gottes, des Hirschens, des Herrscher des Waldes – und ganz zufällig ist sie auch noch an Beltane geboren. Ein befreundeter Förster gab ihr einige abgestoßene Hirsch-Geweihe, die er in den Wäldern gefunden hatte. Und nun bekam jede von uns Schwestern eines davon geschenkt. Wir waren aus dem Häuschen vor Freude!

Da ich ohne Auto zu unserer Zusammenkunft gereist war, musste ich das Geweih auf der Rückfahrt mit in den Zug nehmen. Eine andere Schwester – Corinna, bei der wir uns dieses Mal getroffen hatten – gab mir dafür eine riesige pinke Plastiktüte mit Blumen drauf. Der Kontrast zum Geweih konnte nicht größer sein, aber sie bot Schutz – wenn auch eine Spitze auffällig herausragte.
Vor Antritt der Rückreise musste ich noch einen Moment am Bahnhof warten und setzte mich daher samt Gepäck in ein Café. Keine fünf Minuten saß ich dort, da fragte mich der Mann vom Nebentisch, was das Geweih denn kosten würde! Ich schaute in sprachlos an. Mein erster Gedanke: „Hey, das ist nicht zu verkaufen!“ Der Mann trägt zerschlissene Kleidung und seine Ausstrahlung wirkt auf mich irgendwie… ärmlich. Doch obwohl nur eine kleine Spitze vom Geweih aus der Tüte ragte, hatte er das Geweih entdeckt. Er war im Begriff zu gehen und beäugte auf seinem Weg nach draußen ehrfürchtig die Tüte auf meinem Koffer. So etwas sei schwer zu bekommen, sagte er. Ich sah seinen ehrlichen und bewundernden Blick und sagte, ich hätte wirklich keine Ahnung, was es kosten würde, da ich es geschenkt bekommen hatte. Ich schlug vor, dass er in den Wald gehen und selber kostenlos eins finden könnte. Er jedoch ging kopfschüttelnd davon in dem Glauben, dass ihm so etwas nie zu eigen werden würde.
Diese kurze Begegnung berührte mich eigenartig. Als ich dann im Zug saß, kamen einige Eingebungen zum Thema WERT und einige Erinnerungen, die ich hier gern teilen möchte.
Ausgerechnet dieser „arme Mann“ hat mir nochmal gezeigt, was für einen reichen Schatz ich da im Gepäck habe. Nicht nur materiell, sondern auch symbolisch! Meinen Wert, meine Würde! Und mir wurde klar, dass wir diesen Schatz alle finden können, ohne dafür „bezahlen“ zu müssen. Er wird uns großzügig von Mutter Natur gegeben, wenn wir offen dafür sind, ihn zu empfangen und bereit, danach zu suchen. Er liegt buchstäblich im Walde und wartet auf uns. Dazu ein Satz von Mel: „Laura, ich glaube, dein Geweih lag schon länger im Wald. Es hat schon eine richtige Patina angesetzt.“ Ja, danke Mel, ich kann es mir vorstellen…
Ich selbst war lange Zeit dieser „ärmliche Mann“. Oft schlich ich bewundernd um die Geweihe der anderen herum in dem Glauben, kein Geweih zu haben oder nicht genug Wert, um eines zu bekommen. Ich habe mich jedoch auf die Suche nach diesem Schatz begeben. Viele Jahre. Was habe ich für mein Geweih, meine Würde, meine Krone, meine Souveränität, meinen Wert gekämpft – und teilweise auch an Wunden davon getragen. An meinem Geweih fehlt übrigens ein kleines Stück – vermutlich im Kampf abgebrochen. Ja, in diesem Sinne hab ich dafür bezahlt. Ich habe viel Energie gegeben. Aber ich wusste ja auch wofür. Für etwas, das eigentlich immer meins war. Und was habe ich durch diese Suche, die sich manchmal auch wie ein Kampf anfühlte, doch an Energie zurückbekommen und an Kraft gewonnen! So vielen Tyrannen Einhalt geboten, so oft NEIN gesagt zu Angreifern und so oft bedingungslos JA zu mir selbst. Alte Programme gelöscht und mein sterbendes inneres Kind geborgen. Aber heute möchte ich nicht weiter von diesen Kämpfen berichten…
Spontan kommt die Erinnerung an eine Tanzstunde vor einigen Jahren. Ich nahm damals Unterricht im Orientalischen Tanz. In dieser Trainingsstunde fühlte ich auf einmal, dass der Geist und die Kraft einer weißen Hirschkuh in mich fuhr, sich ausbreitete und sich auf meinem Kopf ein leuchtendes, feinstoffliches Geweih bildete. Unmittelbar reagierte mein ganzer Körper auf diese Erscheinung und arrangierte sich in eine neue, aufrechte Haltung. Ich erhielt an diesem Tag ein komplett neues Körpergefühl.
Ich konnte es nicht permanent aufrecht erhalten, aber jederzeit im Körpergedächtnis erinnern und abrufen, zum Beispiel wenn ich auf die Bühne ging oder einen Raum betrat. Verbinden, erinnern – zack! Sofort war es da, das Gefühl, das Geweih, meine WürdWie kann ich die Qualität der Hirsche und des Geweihes nur in Worte fassen? Es fühlt sich für mich groß, weit, leicht und erhaben an. Anmutig. Wie Stolz, aber ohne Überheblichkeit, dafür mit einer großen Portion Demut gemischt. Es ist das Gefühl, sich seiner gottgegebenen Würde vollkommen bewusst zu sein. Die Demut kommt durch das Gefühl der Einheit mit allem. Denn nur dann spüre ich diese gottgegebene Würde auch in allen anderen Menschen und Lebewesen um mich herum und habe nicht das Bedürfnis mich über sie zu stellen – aber eben auch nicht unter sie. Das Ego schwankt ständig zwischen Überhöhung und Unterwerfung, Arroganz und Schuldgefühlen. Doch sobald diese allem innewohnende Würde einmal erkannt ist, gibt es keinen Grund mehr, sich kleiner oder größer zu machen. Man IST dann einfach.
Bei mir war es so, dass ich lange Zeit die Geweihe, Lichter und Potenziale nur bei anderen sehen konnte, aber nicht bei mir selbst. Seit ich denken kann, kann ich meinen Blick bis tief in die Essenz eines Wesens hineinlenken. Die Tiefe ist meistens nötig, da eine Menge Schichten von Karma und Illusionen über dem Licht liegen. Manchmal ist es, als würde ich in der Tiefsee nach Perlen tauchen. Aber ich finde sie immer! Bei den anderen konnte ich die Geweihe und die Lichter sehen, aber für mein Licht war ich blind. Ich war nicht drin in diesem Clan der würdevollen Wesen, ich war davon ausgeschlossen, ich war in Dunkelheit und Verderbnis. Das Licht, das Geweih, die Würde in mir selbst zu sehen und zu spüren – das ist mein Geschenk von Cernunnos. Sie – Cernunnos kam meistens in weiblicher Erscheinung zu mir – hat mich erinnert, dass ich ebenfalls zum Clan der Geweihten und Lichtbringer gehöre, und dass es keinen Grund gibt, mein Geweih zu verstecken oder abzustoßen oder zu glauben, ich hätte keines. Es muss auch nicht mehr drum gekämpft werden, es gibt auch einen mühelosen Weg, es zu tragen. Aber davon erzähle ich ein anderes Mal…
Diese Reise in meine Würde ist noch nicht abgeschlossen und doch sehe ich das nun erhaltende Geweih als eine Art Trophäe, die mir durch Mel stellvertretend von der Göttin (wieder) geschenkt worden ist, und die ich immer in Ehren halten werde.
Das Geschenk ist ebenso eine Ermutigung für mich, weiterzugehen auf dieser Reise, die jetzt in dieser Zeit eine noch größere Dimension annehmen wird. Jetzt geht es nicht mehr nur um mein Geweih, sondern um das Geweih der Menschheit, meiner Familie. Ich werde meines weiterhin stellvertretend für alle aufrecht und in Würde tragen – Seite an Seite mit meinen Brüdern und Schwestern aus dem Hirsch-Clan. Nun geht es um unsere Zukunft und Würde als Menschen. Die Reise hat längst begonnen…
Also: Was kostet das Geweih?
Viel! Aber wenn wir es bekommen, fühlt es sich wie ein kostbares Geschenk an, das mühelos zu uns kam und eigentlich schon immer unser war…
Also frage ich nochmal: Was kostet das Geweih?
Nichts… und alles. Denn unsere Würde ist das KOSTbare!
Arstu Hevenechvi suaret.